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Rekonstruktive Verfahren in der empirischen Sozialforschung im Unterschied zu hypothesenprüfenden Verfahren

Zur Methodologie hypothesenprüfender Verfahren

Induktionsproblem: Kann von allgemeinen Sätzen (Basissätze) auf Hypothesen oder Theorien (theoretische Sätze) geschlossen werden (Induktion).

Popper (1971): Wir müssten ja, um das Induktionsprinzip zu rechtfertigen induktive Schlüsse anwenden, für die wir also ein Induktionsprinzip höherer Ordnung voraussetzen müssten usw. Eine empirische Auffassung des Induktionsprinzips scheitert also daran, dass sie zu einem unendlichen Regress führt.

-> Induktionsprinzip taugt nicht als Abgrenzungskriterium. -> Theorien aus erkenntnislogischen Begründung des Forschungsprozesses ausgeklammert -> Methode etwas Neues zu entdecken = Methode der Theorieentdeckung -> Keine Theoriegenerierung im kritischen Rationalismus. -> Konzentration auf Überprüfungs- und Begründungszusammenhang von Theorien.

All-Sätze, All-Aussagen -> unbegrenzte Zahl möglicher Anwendungsfälle -> Reihe der Beobachtung zur Überprüfung (Hypothesen) ist endlich -> nicht verifizierbar aber falsifizierbar.

Abgrenzungskriterium empirischer Aussagen:

  • sollen über die Realität informieren
  • sollen an der Realität scheitern können

-> keine wahren Aussagen möglich. Der Wissenschaftler weiß nicht, er rät nur.

Basissatzproblem: Beziehung der Basis-/Beobachtungssätze zu dem was beobachtet wird.

Basissätze implizieren theoretische Wissensbestände/Theorien. -> es geht bei der Definition immer eine Fülle von Annahmen ein, die weder Definitionen sind noch empirisch überprüft werden können. -> Wahrheitsgehalt, Verifikation von Basissätzen infrage gestellt.

Basisproblem lösbar wenn Interpretationsschritt vom Basis- zum Protokollsatz intersubjektiv überprüfbar und kontrollierbar ist. -> intersubjektive Überprüfbarkeit, Kontrollierbarkeit, Kritisierbarkeit ist als Ideal zu verstehen -> Annäherung: Reproduzierbarkeit des Forschungsprozesses, des Erkenntnisprozesses (Standardisierung)

Hypothesenprüfende Verfahren -> "standardisierte Verfahren"

Zur Kritik an den hypothesenprüfenden Verfahren

Standardisierung der Forschungskommunikation führt zur Beschneidung der Kommunikationsmöglichkeiten der Probanden. -> Gültigkeit (Validität) wird in Frage gestellt.

Ausgangspunkt der Kritik:

  • Basissatzproblem
    Kommunikation zw. Beobachtenden (Interviewer) und Handeln bzw. sprachlichen Äußerungen der Intervieweten (Erforschten)
  • Theorieverständnis
    Ausklammerung der Theoriegenese aus forschungslogischer Betrachtung

Verstehen sich Beobachter und Beobachteter, Interviewer und Befragter -> interpretative Methodologie -> methodisch kontrolliertes Fremdverstehen -> Kontrolle kann nur dadurch erreicht werden, dass der Kommunikationsverlauf vorstrukturiert, standardisiert wird. -> Beschneidung der Kommunikationsmöglichkeiten.

Zur Methodologie rekonstriktiver Verfahren

Motto: Weniger Eingriff schafft mehr Kontrollmöglichkeiten.

Methodische Kontrolle: Kontrolle über die Unterschiede der Sprache von Forschenden und Erforschten. Differenz der Interpretationsrahmen bzw. Relevanzsysteme.

Wichtig! Kontext: kommunizieren innerhalb des gewohnten sozialen Kontextes.

Merkmal offener Kommunikation: Die Strukturierung der Kommunikation im Rahmen des für die Untersuchung relevanten Themas wird so weit wie möglich denen überlassen, die Gegenstand der Forschung sind, damit diese ihre Relevanzsysteme und ihr kommunikatives Regelsystem entfalten können und auf diesem Weg der Unterschied zum Relevanzsystem des Forschenden erkennbar wird.

Prinzipien interpretativer Verfahren:

  • Offenheit
    Theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes erst nach Strukturierung durch Forschungsobjekte.
  • Kommunikation
    Zugang zum Forschungsgegenstand nur durch Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungsobjekt.

Besonderheit des Gegenstandbereichs der Sozialwissenschaft: Konstruktion zweiten Grades: Es sind Konstruktionen jener Konstruktion, die im Sozialfeld von Handelnden gebildet werden (doppelte Hermeneutik).

-> Bereits Gegenstand des Denkens (soziales Handeln, Alltagshandeln) ist auf unterschiedlichen Ebenen durch sinnhafte Konstruktion, Typenbildung und Methoden vor strukturiert. -> Alltagserfahrung ist symbolisch strukturiert (Konstruktion ersten Grades) -> von wissenschaftlicher Konstruktion rekonstruiert (Konstruktion zweiten Grades).

Forschung = Alltagshandlung des Wissenschaftlers -> erkenntnistheoretischer und methodologischer Anspruch und Forschungspraxis klaffen auseinander -> Die Forschenden verfahren eher intuitiv, nutzen ihre intuitiven, nicht expliziten Alltagskompetenzen und verfeinern sie auf der Grundlage der Forschungserfahrung.

Zur Rekonstruktion der Rekonstruktion

Rekonstruktion der eigenen empirischen Verfahrensweise: Rekonstruktion der Verfahren und Methoden der Interpretation und Reflexion die im Alltag derjenigen die Gegenstand der Forschung sind sowie im Alltag der Forscher zur Anwendung gelangen (Basisregeln, pragmatische Universalien (Habermas)).

Orientierung der Forschungsprozesses an der Theoriegenerierung nicht an der Theorieprüfung. Wissenschaftlicher Fortschritt ist nur durch Theoriegenerierung möglich. -> Theorie kann nur durch alternative (überlegene) Theorie überwunden werden nicht durch Falsifikation.

Hermeneutischer Zirkel: Zirkel der bei Anwendung wissenschaftlicher Gesetzeshypothesen auf beobachtete Sachverhalte nicht zu vermeiden ist -> Anwendung von Gesetzessystem  nur bei vorheriger Einigung auf Tatsachenfeststellung möglich -> Feststellung wiederum in Verfahren erreicht, dass dem Gesetzessystem entspricht -> es schon anwendet (untrennbarer Zusammenhang von Theorie und Beobachtung, Gesetz und Anwendungsfall).

Zirkelhafte Beziehung von allgemeinen uns spezifischen Sätzen -> reflexive Beziehung von allgemeinen Regeln/Normen und Anwendungsfällen. -> wenn ich von einer Theorie ausgehe, nehme ich Beobachtung immer schon selektiv im Lichte dieser Theorie wahr -> Erkenntnisfortschritt ist nur denkbar, wenn ich aus dem Zirkel aussteige und einen neuen alternativen Zirkel initiiere -> Erkenntnisforschritt ist an Theoriegenerierung gebunden.

Glaser/Strauss: Eine Theorie ist ihrem Gegenstand nur angemessen, wenn sie aus ihm heraus entwickelt worden ist.