Die erfundene Wirklichkeit

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Die erfundene Wirklichkeit (Hrsg. Paul Watzlawick)

Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. (Watzlawick 2008 (Hrsg.))

Einführung in den radikalen Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld)

"Wissen wird vom lebenden Organismus aufgebaut, um den an und für sich formlosen Fluß des Erlebens soweit wie möglich in wiederholbare Erlebnisse und relativ verläßliche Beziehungen zwischen diesen zu ordnen. Die Möglichkeiten, so eine Ordnung zu konstruieren, werden stets durch die vorhergehenden Schritte in der Konstruktion bestimmt. Das heißt, daß die "wirkliche" Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern. Da wir das Scheitern aber immer nur in eben diesen Begriffen beschreiben und erklären können, die wir zum Bau der scheiternden Strukturen verwendet haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir für das Scheitern verantwortlich machen könnten. " (S. 37)

Das Konstruieren einer Wirklichkeit (Heinz von Foerster)

"Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung" (S. 40)

"Prinzip der undifferenzierten Codierung ... In den Erregungszuständen einer Nervenzelle ist nicht die physikalische Natur der Erregungsursache codiert. Codiert wird lediglich die Intensität der Erregungsursache, also ein "wieviel", aber nicht ein "was". (S. 43)

"Der ästhetische Imperativ: Willst du erkennen, lerne zu handeln.

Der ethische Imperativ: Handle stets so, daß weitere Möglichkeiten entstehen" (S. 60)

Aktive und passive Negation. Essay zur ibanskischen Soziologie (John Elster)

"I. Person A glaubt an die Wahrheit des Satzes p [abgekürzt: A glaubt p]

II. Es trifft nicht zu, daß Person A p glaubt [abgekürzt: Nicht (A glaubt p)]

III. A glaubt das Gegenteil von p [abgekürzt: A glaubt nicht-p]

Der Satz II ist die passive Negation von Satz I; der Satz III die aktive."

Bausteine ideologischer "Wirklichkeit" (Paul Watzlawick)

"Die These sei vorweggenommen: Was durch die Setzung einer bestimmten Ideologie erfundene Wirklichkeit betrifft, ist ihr Inhalt gleichgültig und mag jenem einer anderen Ideologie total widersprechen; die Auswirkungen dagegen sind von einer erschreckenden Stereotypie." (S.192)

1. Der pseudo-göttliche Ursprung der Ideologien

"Da dem Durchschnittsmenschen das Weltgefüge unerfaßbar ist, ist eine Ideologie um so überzeugender, je mehr sie sich auf einen ungewöhnlichen, übermenschlichen oder zumindest genialen Urheber berufen kann." (S. 193)

2. Die vermutlichen psychologischen Notwendigkeiten der Ideologie

"Wir Menschen und - wie die moderne Primatologie lehrt - übrigens auch die anderen höheren Säugetiere scheinen psychisch in einem sinn- und ordnungslosen Universum nicht überleben zu können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Füllens der Leere, deren Erlebnis uns in seiner verdünntesten Form in Langeweile, in seiner konzentriertesten in Psychose oder Selbstmord treiben kann. Wenn aber so viel auf dem Spiele steht, muß die Erklärung der Welt hieb- und stichfest sein, darf sie keine Fragen offenlassen." (S. 195)

3. Die Paradoxien des Ewigkeitswertes

"Der Anspruch jeder Ideologie auf Ewigkeitswert führt unvermeidlich zu einer in der Formallogik seit Jahrtausenden bekannten Paradoxie, die jedoch dem Begriffssystem die Fähigkeit verleiht, auch die größten Widersprüche scheinbar mühelos aufzulösen. Es handelt sich um die Einführung von Null und Unendlich in mathematische Gleichungen und deren Folgen." (S. 196)

4. Die Paradoxien der Vollkommenheit und Unendlichkeit

"Kühn, mächtig und scheinbar in sich geschlossen, wie es das erhabenste Lehrgebäude auch sein mag, hat es doch eine fatale Unvollkommenheit: es kann seine eigene Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit nicht aus sich selbst heraus beweisen." (S. 199)

5. Häresie und Paranoia

"Aus der Setzung einer allgemeinverpflichtenden, da für wahr gehaltenen Ideologie folgt wie die Nacht dem Tage das Auftreten der Häresie, jenes Wortes (heiresis), das ursprünglich nicht Kezterei bedeutete, sondern Wahl - also einen Zustand, in dem man (noch) wählen kann." (S. 204)

6. Die Paradoxie der geforderten Spontaneität

"Quer durch alle Hochreligionen, besonders aber die christliche Ethik, zieht sich die bedrückende, im wesentlichen unbeantwortete Frage, wie die Schwäche und die Sündhaftigkeit des Menschen mit den Erfordernissen eines reinen Glaubens in Einklang gebracht werden können." (S. 212)

7. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit

"Mit der wachsenden Zuversicht auf eine totale Erfassung der Wirklichkeit aufgrund objektiver, jederzeit wiederholbarer Beobachtungen und Experimente begann die Wissenschaft das ideologische Vakuum zu füllen, das sich in den letzten hundert Jahren allmählich durch das Verblassen der großen religiösen, ethischen und philosophischen Leitbilder ergab." (S. 217)

8. Die Enantiodromie

"Unter Enentiodromie versteht man seit Heraklit, dem großen Philosophen des Wandels, das Umschlagen der Dinge in ihr Gegenteil." (S. 221)

Kann eine Untersuchung der Grundlagen der Mathematik uns etwas über das Denken verraten? (Gabriel Stolzenberg)

"So wie die Dinge im Augenblick liegen, wird trotz eines verbreiteten Bewußtseins, daß Sprache tatsächlich die Macht zu haben scheint, uns "Dinge sehen" zu lassen, nicht ernst genommen, daß Sprache eine bestimmende Einflußgröße - und möglicherweise eine Quelle beträchtlichen Irrtums - für die "objektive Wirklichkeit des heutigen Wissenschaftlers sein kann [... wenn das aber akzeptiert wird, werden wir feststellen] daß es neben der reinen Mathematik auch andere Bereiche der zeitgenössischen Wissenschaft gibt, in denen ein beträchtlicher Anteil dessen, was für "objektive Wirklichkeit" gehalten wird, tatsächlich im Bereich des Sprachgebrauchs durch Akte der Akzeptanz von "Dingen in ihrem 'So-Sein'" produziert wird." (S. 292)

Der kreative Zirkel Skizzen zur Naturgeschichte der Rückbezüglichkeit (Francisco Varela)

"Wir können aus dem durch unseren Körper und unser Nervensystem festgelegten Bereich nicht heraustreten. Es gibt keine andere Welt als diejenige, die uns durch diesen Prozess vermittelt wird [...]

Wir können eine gegebene Erfahrung nicht in einer einzigartigen, unwiederholbaren Weise auf ihre Ursprünge zurückverfolgen." (S. 306)

"Die Welt besteht, und wir sehen sie entweder wie sie (objektiv) ist, oder wir sehen sie durch unsere Subjektivität." (S. 307)

"Dieser Logik zufolge ist unser Verhältnis zur Welt wie das zu einem Spiegel, der uns weder verrät, wie die Welt ist, noch wie sie nicht ist. Es zeigt uns, daß es möglich ist, daß wir so sind, und so zu handeln, wie wir gehandelt haben. Er zeigt uns, daß unsere Erfahrung lebensfähig ist." (S. 308)

Epilog (Paul Watzlawick)

"Der Konstruktivismus erschafft oder "erklärt" keine Wirklichkeit "da draußen", sondern enthüllt, daß es kein Innen und Außen gibt, keine Welt der dem Subjekt gegenüberstehen den Objekte. Er zeigt vielmehr, daß die Subjekt-Objekt-Trennung, auf deren Annahme sich die Myriaden von "Wirklichkeiten" aufbauen, nicht besteht; daß die Spaltung der Welt in Gegensatzpaare vom erlebenden Subjekt konstruiert wird; und daß die Paradoxien den Ausweg zur Autonomie öffnen." (S. 314)